Ansprache von Prof. em. Dr. Fritz Stern, New York/USA
Rede 20.07.2010
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Ort
Berlin, Ehrenhof des Bendlerblocks
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Rednerin oder Redner
sonstige
Herr Bundesratspräsident,
Herr Bundesminister,
Herr Regierender Bürgermeister,
meine Damen und Herren,
Nur eins würde dem Sinn dieser Stunde entsprechen: schweigen in Ehrfurcht. Aber das würde den Menschen, an die wir heute denken, nicht gerecht. In Demut und Dankbarkeit stehen wir hier, wo der Mord an den Patrioten seinen grausamen Anfang nahm. In Demut, da uns die Pein der Prüfung erspart geblieben ist - wir wissen nicht, wie wir uns verhalten hätten. Aber auch in Dankbarkeit, da die Menschen des 20. Juli ein Vorbild des Anstands hinterlassen haben, weil die Erinnerung an sie und den gescheiterten Aufstand eine Mahnung an die Bürger unserer Welt darstellt.
Die Menschen des 20. Juli sind ein Teil deutscher und europäischer Geschichte und in der deutschen Geschichte einmalig: Nie zuvor gab es in Deutschland einen solchen Aufstand für Befreiung, für Recht und menschliche Würde, von Menschen aus verschiedenen Schichten getragen - Adel und Gewerkschaftler, Militär und Beamte, Christen und Freidenker, aus allen Teilen des Landes. Gemeinsam im Kampf gegen ein Übel, den eigenen Unrechtsstaat, der das Land moralisch und schließlich existentiell in eine Katastrophe trieb, und doch auch mit sehr verschiedenen Zukunftsvorstellungen.
Ihnen gilt unsere Bewunderung, die ihnen in früheren Zeiten von Deutschen und Fremden eher verweigert wurde. Ihr Beispiel, der nur dem eigenen Gewissen folgenden Unbeugsamkeit, passte weder den Deutschen, die im Dritten Reich der Begeisterung oder der Passivität verfallen waren, noch den Feinden, die überzeugt waren, dass alle Deutschen Nazis waren. Heute sollten wir uns um ein lebendiges historisches Verständnis bemühen. Das Menschliche, das immer individuell ist, mit historischem Wissen zu verbinden, ist stets eine Herausforderung, und ganz besonders wenn es Menschen betrifft, die man als Menschen bewundert, deren Denken und Verhalten uns aber gelegentlich fremd vorkommt. Wir müssen uns bewusst sein, dass diese großartigen Menschen in einer uns fernen Welt lebten, unter den schwierigsten Bedingungen; wir sollten versuchen, sie in ihrer ganzen Größe und Tragik zu verstehen. Dieser Ort hier des Leidens sollte Verständnis mit Einfühlung verbinden.
Aber vorerst das rein Menschliche, das Unmittelbare, die Ehrfurcht vor diesen Menschen: die Trauer, die uns an diesem Ort berührt. Ich habe die Erschütterung des plötzlichen Wiederauftauchens von vergangenem Schrecken hier im Bendlerblock am 20. Juli 1954 selbst erlebt - bei der ersten offiziellen Gedenkstunde für die Menschen des Aufstands. Hauptredner war ein Freund meiner Eltern, Hermann Lüdemann, der als Sozialdemokrat sehr früh 1933 verschleppt und gepeinigt wurde. Bundeskanzler Adenauer war anwesend - aber es war die Sicht der Witwen in Schmerz und Trauer, die Sicht der vaterlosen Kinder, das Wahrnehmen ihrer Tränen, die ich sah oder ahnte - das hat mich zutiefst betroffen. Etwas änderte sich in mir, Gefühle vorerst, Gedanken später, die ich aber am nächsten Tage in einem Brief festhielt. Die Opfer waren lebensnah, die Tragik spürbar. Eine innere Scham überkam mich, die Scham über meine hasserfüllte Abscheu vor allem Deutschen, das in mir seit meiner Kindheit nistete. In jenem Brief schrieb ich, dass ich ein Gefühl der Befreiung spürte, ein Bröckeln des unreflektierten Hasses des Kindes, des Ausgeschlossenen, dessen Eltern aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Trauer der Hinterbliebenen hat mich aufgewühlt und im Rückblick bin ich mir bewusst, dass ich für diesen Schock eigentlich vorbereitet war. Als Kind im Nationalsozialismus aufgewachsen, spürte ich die Gefahren und die Hilflosigkeit der damaligen Zeit, ich kannte einige der frühen Opfer des Regimes und wusste auch, dass es gute Menschen gab - und träumte von Freiheitskämpfern und Freiheit. So hatte mein Leben mich auf den Schock der Begegnung vorbereitet: ich wollte ja an ein anderes Deutschland glauben. Auch heute noch fällt es mir schwer, das innere Aufrütteln jenes Tages zu erklären: es ging um Trauer und Bewunderung, aber auch, und in demselben Brief, um Bedenken: der Versuch der Befreiung kam spät und die Ideale der Befreier entsprachen nicht unseren Idealen.
Jene Stunde im Bendlerblock am 20. Juli 1954 hat mein Leben begleitet, hat mir den Weg zu neuen Beziehungen zur deutschen Gegenwart ermöglicht, vertieft durch spätere Freundschaften, die gemeinsames Gedenken des 20. Juli einschlossen. Ich denke an Ralf Dahrendorf und Marion Gräfin Dönhoff. Und dieses Erlebnis mag auch Ermutigung gewesen sein, sich immer wieder mit der widersprüchlichen Geschichte dieses Landes zu befassen. Die Erinnerungen an den 20. Juli sind selbst voller Widersprüche und oft voller verdeckter Selbstinteressen: Ich habe versucht, meine eigene Erfahrung durch die Wahrnehmung der Forschung so vieler Historiker mir selbst verständlich zu machen. Mythische Heroisierung oder Verleumdung sind verderblich.
Damals, 1954, ergriff mich die Trauer der Hinterbliebenen, heute möchte ich mich an die Familienmitglieder wenden. Meine Damen und Herren: Sie tragen ein schweres aber auch großes Erbe, Sie wissen besser als die allermeisten von uns, was Ihre Eltern und Großeltern erlebt und erlitten haben, und Sie wissen um dem schweren Weg, dem die Überlebenden ausgesetzt waren.
Auch wissen Sie, was die Frauen im Widerstand geleistet haben: ohne deren Verständnis, ohne deren Liebe und Hilfe wäre der Widerstand unvorstellbar gewesen. Dieser unerschütterliche, als selbstverständlich empfundene Zusammenhalt entsprach dem Geist des Widerstands. Allein das Wissen um das unbeschreibliche Leid des Mannes, die verzweifelten Versuche, den Verurteilten doch noch das Leben zu retten, die Sorge um die Kinder zur Zeit der Sippenhaft: alles Beweise unfassbarer Tapferkeit.
Ein tiefer Glaube an Gott und seinem Walten gab vielen Widerständlern Rückhalt und Rechtfertigung. Alle hatten ein durchdringendes Verantwortungsgefühl - ein Pflichtgefühl aus Tradition, im Dienste der Humanität, überzeugt von den Geboten der Menschlichkeit.
Sie wissen: Der Aufstand war nicht umsonst. Die Erinnerung an ihn hat einige Vordenker der Bundesrepublik bewegt. Das Grundgesetz ist entferntes Echo: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die Erinnerung hat das Selbstbewusstsein der neu entstandenen Bundeswehr bestimmt: der Gedanke des Staatsbürgers in Uniform ist Leitfigur der Bundeswehr; die Mahnung, dass selbst der Soldat seinem Gewissen folgen muss - hin bis zum Ungehorsam - ist Erbe des Widerstands, wie dies auch der frühere Generalinspekteur Klaus Naumann, der unter uns weilt, es öfters betonte: "In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlichdemokratischen Rechtsordnung gestellt würde." Dieses Gelöbnis glich in sich selber einer moralischen Revolution, Abschied vom Kadavergehorsam, Echo von Schillers Beschwörung, dass Tyrannenmacht eine Grenze haben muss. Eine grundlegende Errungenschaft der deutschen Geschichte - von anerkannter Bedeutung auch für Soldaten anderer Nationen.
Wir gedenken hier der Menschen, die am letzten, größten Moment des deutschen Widerstands teilgenommen haben. Stellvertretend, ungenügend, nur einige Namen: wir denken an General Beck, an die Brüder Stauffenberg, an Hans von Dohnanyi und die Familie Bonhoeffer, an Helmuth Graf von Moltke und seine Mitstreiter, an Fritz von der Schulenburg. Auch an Sozialdemokraten, an Wilhelm Leuschner, Julius Leber, Gustav Dahrendorf, die trotz schon erfahrener Folter sich erneut dem Widerstand stellten, an Harald Poelchau, den Gefängnispastor. Aber wir sollten uns auch an die frühen Widerständler erinnern, an die Gegner der Nazis in Weimar, und die verfolgten Gegner nach der Machtübertragung an Hitler 1933, die im Untergrund den Kampf weiterführten, wo auch Willy Brandt sein Leben riskierte; an Einzelne wie Georg Elser, und an kleine Gruppen wie die Geschwister Scholl oder Arvid Harnacks Rote Kapelle - bis zuletzt in die höchsten Kreise des Militärs und der Bürokratie. Auch sollten wir der Menschen gedenken, die in jener Zeit ganz einfach Anstand bewiesen haben, in aller Stille, die den Hilflosen einen menschlichen Dienst erwiesen haben. Was waren das für Menschen, die ihr Leben riskierten, um Anderen zu helfen, oder um ihr Land zu retten, um das Prinzip des Rechts neu zu festigen.
Es war schwer für die Menschen des späteren Widerstands ihre Welt zu verstehen, erschwert wohl auch durch ihre Vorstellungen der deutschen Vergangenheit. Sie lebten im Schatten dramatisch-traumatischer Geschichte. Ganz knapp nur einige Andeutungen: Von 1914 bis 1933 taumelte Deutschland von einem tief aufwühlenden Umsturz zum anderen: Rausch und Siege von 1914 endeten mit einer anscheinend plötzlichen Niederlage, mit einer neuen, für viele fremden Staatsform, befrachtet von alten Schulden, die sich in einer Welt von Feinden behaupten musste, Inflation und Wirtschaftskrise - und Kampf im Inneren. Das Land war gespalten, auch die Deutung der vielen Traumata war Kampfgebiet. Viele der späteren Verschwörer waren Gefangene unbewusster Ressentiments: Man gab sich Täuschungen hin, man verdrängte die eigene Schuld, und war sich zumindest bewusst der weitverbreitesten aller Lügen der damaligen Zeit: der Dolchstoßlegende. Viele klammerten sich an den Gedanken des inneren Verrats, wie so oft in der Geschichte und überall: eine schuldbeladene, verzerrte Vergangenheit vergiftete die Gegenwart und lähmte die Kraft zur Gesundung. Die Weimarer Republik hatte weder Glanz noch Glück - und wurde von den deutschen Eliten verachtet. Dass hinter Ressentiments und Gegnerschaft materielle Interessen standen, wurde verschwiegen - oder übertrieben. Ein Land ohne Vertrauen, ein Land, wo die Eliten versagten - nur wenn man all das berücksichtigt, kann man die Auflösung Weimars zu verstehen versuchen. Nur in einem solchen Land - mit seinen eigenen alten idealistisch verbrämten Traditionen - konnte es zum Aufstieg eines Hitlers kommen - wobei dieser Aufstieg des angeblichen Erlösers weder unvermeidlich noch zufällig war.
Was hat der Nationalsozialismus alles versprochen und anscheinend verkörpert: straffe Führung, innere Säuberung, Ende der Wirtschaftskrise, Befreiung von Versailles und Wiederherstellung der deutschen Großmacht, Kampf eines geeinten Volkstums gegen Bolschewismus und jüdische Zersetzungsmacht, verbrämt mit pseudo-religiöser Heiligkeit. Angesichts solcher Versprechen und der unüberbietbaren Inszenierung neuer Macht, kann man verstehen, dass einige der Hauptfiguren des späteren Widerstandes, wie General Beck und Fritz von der Schulenburg, die Bewegung als Rettung betrachteten und ihr begeistert Vorschuss- Vertrauen schenkten. Umso eher, da vom ersten Moment der konservativen Machtübergabe an Hitler der Schein der Legalität erhalten wurde - so dass der Nimbus des Staates weiter existierte und damit auch die alte Staatstreue und der Obrigkeitsglaube Bestand hatten. Der Schein der Legalität verdeckte die Wirklichkeit des um sich greifenden Unrechts.
Dass diese Erhebung Erniedrigung für viele bedeutete, wurde kaum wahrgenommen. Dass bereits im Februar 1933 Tausende von Menschen der Grausamkeit der SA ausgeliefert wurden, dass Menschen in Konzentrationslagern gepeinigt wurden, der Rechtsstaat der Willkür geopfert wurde, wollte man nicht sehen oder es wurde verklärt als Preis für die großen Errungenschaften: War nicht die Arbeitslosigkeit im Sinken? Wirtschaft und das Land überhaupt im Aufstieg? Auch die Ausschaltung von Juden aus Amt und Würden - wie auch von sogenannten Ariern, die politisch als unzuverlässig galten - auch das wurde mehr oder weniger stillschweigend hingenommen - oder sogar begrüßt. Die Gleichschaltung von oben wurde erleichtert durch die Selbst-Zensur von Unten: Die Geschwindigkeit der Unterwerfung verblüffte die Nazis selbst.
Es gab auch Gegner der ersten Stunde wie Ewald von Kleist-Schmenzin, es gab das Urteil in Thomas Manns Tagebuch vom April 1933: "Wie seltsam, dass man in Deutschland gegen die wahrhaft schweinischen Mittel, mit dessen die "Volksbewegung" gesiegt hat, offenbar nicht die Empörung, den Ekel aufbringt, den ich empfinde!"
Selbst die Reichswehr, stolz auf alte Tugenden und Traditionen, erlebte Machtgewinn verbunden mit moralischem Verlust. Im Blutbad des 30. Juni 1934 wurde zwar die SA enthauptet, aber gleichzeitig wurden zwei deutsche Generäle ermordet, Opfer der aufsteigenden SS. Sechs Wochen später leistete die Armee den Eid auf den Führer, jenen fatalen Eid auf einen Mörder. Manche Militärs, und so auch Ludwig Beck, zweifelten zwar und einige fürchteten, dass das moralische Rückgrat der Armee bereits tief verletzt war. Mit Recht wird der 20. Juli oft als Aufstand des Gewissens verstanden; es war eben kein politischer Aufstand und schon gar nicht ein Intrigen- oder Karrierespiel. Das Gewissen ist eine moralische Instanz, fern von politischer Gebundenheit, fest im Prinzip, doch auch schwankend im Urteil. Es erlaubt Lässigkeit, es ist beschwichtbar, zuerst kommen "Gewissensbisse" - bis es schließlich zu einer dem Religiösen ähnlichen Überzeugung kommt. Die Verschwörer kamen zu ihrer endgültigen Entscheidung zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Motiven, abhängig auch von Zeitläufen. Man erinnere sich an die taumelnde Geschwindigkeit, mit der Ereignisse immer neue Verhältnisse schafften. Die Triumphe des Regimes waren bestechend und lähmend zugleich.
Und doch gab es leuchtende Ausnahmen von Anfang an. Es gab Menschen gerade in der Justiz und der Armee, die die Perversion des Rechts, die Unterdrückung aller menschlichen Normen, die Vergötterung des Führers als frevelhafte Verbrechen betrachteten. Wir wissen um Männer wie Moltke und Dohnanyi, die schon sehr früh, getarnt als Diener des Staates, ihre Opposition zum Regime in die Tat umsetzten, um Menschen zu helfen, um Schlimmeres zu verhüten. Allein dieser Wille, gegen den eigenen Staat im Geheimen zu agieren, verlangte ein Sich-Selbst-Überwinden, einen Sprung über den eigenen Schatten, war etwas Quälendes - und Großartiges. Viele der späteren Verschwörer waren entsetzt ob der Rechtlosigkeit des Regimes, auch abgestoßen von dem vulgären, plebischen Stil der Machthaber. Aber es blieb vorerst beim privaten Flüstern, beim Unbehagen.
Man muss sich das Leben in der Diktatur vorstellen: Ich denke an die späteren Verschwörer: was musste alles verschwiegen oder auch verleugnet werden, wie zerreißend dieses Doppelleben gerade für Menschen, für die Offenheit zum Charakter gehörte. Welches Geschick brauchte man, um sich zu verständigen: es gab kein Briefgeheimnis mehr, jedes Telefongespräch konnte abgehört werden, Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung - Denunziantenturn und Bespitzelung griffen wild um sich. Der entsetzliche Zweifel: wem kann man trauen, wem nicht, ein deprimierender Vertrauensverlust. Und mit unbedachtem Sprechen oder Taten gefährdete man ja nicht nur sich selbst, sondern die eigene Familie, vielleicht den Freundeskreis. Wenn man sich diesen Gefahren bewusst ist, wenn man nochmals an die Einschüchterung durch Terror denkt, dann kann man, bedauernd zwar, aber verstehen, dass so viele Greuel, so viel Unrecht hingenommen wurde. Es bleibt dennoch schmerzhaft, dass so viele Menschen so viel Unrecht schweigend akzeptiert haben. Die Mehrheit der Deutschen hat die eigene Entmachtung nicht gespürt, dankbar für geordneten Wohlstand. Auch die Verfolgung der Juden fand Zustimmung: das Regime konnte sich auf alle Vorurteile im Volke verlassen. Für die Andersdenkenden war der Weg von Unbehagen zur Opposition und schließlich zum Widerstand ein langwieriger Alleingang, mit Zweifeln belegt.
Der Auftakt zum entschlossenen Widerstand entstand im Sommer 1938 im Angesicht der Kriegsgefahr. Generalstabschef Beck betrachtete Hitlers Entscheidung für einen Krieg gegen die Tschechoslowakei als ein verhängnisvolles Abenteuer, er verwarf einen nicht zu gewinnenden Krieg als HasardeurspieI, aber noch mehr, er war überzeugt, dass "die Wiederherstellung geordneter Rechtzustände" ein absolutes Imperativ blieb. Er hoffte, dass die Armee Hitler entmachten könnte, aber die Generalität verweigerte diese Verantwortung; er trat zurück und von da an wurde er zur Schlüsselfigur des Widerstandes. Er genoss Vertrauen - die wichtigste Vorbedingung für sein Tun. Seine Integrität und Strenge waren Vorbild eines echten Konservatismus, der sich nicht nur in Deutschland und nicht nur damals im Niedergang befand.
Von da an und immer mehr unter dem Druck des Krieges entstanden Verbindungen zwischen entschlossenen Gegnern des Regimes. Ihre Abscheu war klar und wuchs mit den Verbrechen, die im Osten geschahen. Die meisten von ihnen wussten von dem Massenmord an den Juden, von dem Wüten in Russland. Ich erinnere mich an Gespräche mit Axel von dem Busche, der mit dem Morden im Osten konfrontiert wurde.
Die Nachwelt hat sich mit den Zukunftsplänen des Widerstands viel beschäftigt. Ich kann hier nur zwei Aspekte erwähnen: nach Stalingrad hofften die Verschwörer auf ein baldiges Ende des Schreckens, eine militärische Niederlage hinnehmend, hofften auf ein Deutschland in einem neu organisierten, friedfertigen Europa. Sie setzten auf eine Neuordnung der deutschen Gesellschaft, viele glaubten an eine Entwicklung aus kleinen Gemeinden, fern der verhassten Großstädte, mit sehr begrenzter Mitbestimmung des Volkes, aber bemüht um Beschränkungen des Kapitalismus, um soziale Gerechtigkeit. Hans Mommsen hat auf die Verbindung zu den Ideen der sogenannten "Konservativen Revolution" verwiesen, eine mit Kulturpessimismus durchdrängte konservative Utopie, aber ziemlich wirklichkeitsfremd.
Die Meisten waren keine Demokraten, Demokratie war ein Fremdwort, es gab keine demokratische Staatslehre, nur die falsch verstandene Erfahrung, Weimar habe zu Hitler geführt. Von ihnen die Wiederherstellung von Weimar zu erwarten, beweist Ignoranz. Ihre Betonung von Recht und Justiz als elementar wichtige Bedingungen, vielleicht als Vorstufe zur Demokratie, mag uns heute eher überzeugen.
Ich glaube, die Männer und Frauen des 20. Juli waren in ihrem Tiefsten unpolitische Menschen, die in moralischen Kategorien dachten und urteilten. In Frankreich bezeichnete man solche Menschen als moralistes - eine ehrenwerte Gattung. Viele von den Verschwörern wussten, es ging um altpreußische Tugenden, die auch außerhalb Preußens ihre Repräsentanten hatten. Die Menschen des Widerstands waren entsetzt von der Brutalisierung der Menschen, sie hofften auf eine Kehrtwendung der Menschen. Die vorgesehene Ansprache des Reichsverwesers Ludwig Beck, nach dem Tod Hitlers, war letzter, bester Ausdruck ihrer Grundprinzipien: "Wir wollen Gottesfurcht an Stelle von Selbstvergottung, Recht und Freiheit an Stelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit an Stelle von Lüge und Eigennutz."
Ich glaube, Moltke sprach für viele, als er 1942 schrieb: "Die ständige Gefahr, in der wir leben, ist furchtbar.... Dadurch sind alle Bände der Natur und des Umgangs zerrissen, das Tier im Menschen ist frei geworden und herrscht." Ich glaube Hans-Bernd von Haeften sprach auch für alle, als er Freisler vor dem Volksgerichtshof entgegenwarf, "Hitler [sei] der große Vollstrecker des Bösen." Die Verschwörer wussten um das ewig bestehende Böse, das der Zähmung bedarf, sie wussten von der ungeheuren Schuld, die auf Deutschland lastete. Sie
spürten die Notwendigkeit der Sühne, sie fürchteten die drohende Rache der Gepeinigten. Sie waren sich der Verrohung bewusst, und am Ende ging es ihnen hauptsächlich um die Anerkennung menschlicher Würde, um die Herstellung von Recht und Freiheit. Sie waren sich der Gefahr des Scheiterns bewusst, sie sprachen vom "Fluch des längst 'zu spät' das auf dem Ganzen lastete." Aber zuallerletzt blieb doch der Glaube, ihr Versuch könnte der Ehre Deutschlands dienen.
Zum Schluss ein Wagnis der Deutung: Bei dem Abstand von beinah siebzig Jahren, darf man vielleicht fragen, ob es nicht wichtige Gemeinsamkeiten im deutschen Widerstand und in der europäischen Résistance gegeben hat. Waren nicht beide besorgt um innere Erneuerung, wissend, dass es der deutschen Diktatur gelungen war, die lauernde Unmenschlichkeit in Europa zu mobilisieren. Man sah sich konfrontiert mit einer europäischen Krise. Auch die französische Résistance hatte vorerst einen konservativen Einschlag, ein Verlangen nach der kritischen Deutung der eigenen Vergangenheit und einer moralischen Auseinandersetzung. Man war sich bewusst einer entsetzlichen Verrohung. Wie konnte es zu den Verbrechen kommen? Und in den Kellern der Résistance wie in den Entwürfen des deutschen Widerstandes hoffte man auf ein baldiges Ende des Krieges und auf ein friedfertiges, vereintes Europa.
Ich möchte nur an einen der großen Menschen der französischen Résistance, an Albert Camus, erinnern, der genau im Juli 1944 im Pariser Untergrund in einem Brief an einen fiktiven deutschen Freund das Elend der deutschen Verrohung beklagte: "Sie haben angenommen, [schrieb er] dass es angesichts des Fehlens aller menschlichen oder göttlichen Moral einzig die Werte gebe, die im Tierreich herrschen, nämlich Gewalt und List. Daraus haben Sie geschlossen, dass der Mensch nichts sei und man seine Seele töten könne, dass in unserer höchst sinnlosen Geschichte die Aufgabe eines Individuums nur im Erlebnis der Macht bestehen könne und seine Moral nur im Realismus der Eroberung. …Sie waren so überzeugt von der Ungerechtigkeit unseres Seins, dass Sie sich entschlossen, dazu beizutragen, während mir im Gegenteil schien, der Mensch müsse auf Gerechtigkeit pochen, um gegen die ewige Ungerechtigkeit zu kämpfen, Glück schaffen, um sich gegen die Welt des Unglücks aufzulehnen. Weil Sie aus Ihrer Verzweiflung einen Rausch gemacht haben, weil Sie sich davon befreiten, indem Sie sie zum Prinzip erhoben, haben Sie eingewilligt, die Werke des Menschen zu zerstören, und gegen ihn zu kämpfen, um das Elend seines Daseins zu vollenden." Waren das nicht Moltkes Gedanken in fremder Sprache?
In den letzten Jahren wurde der deutsche Widerstand neu eingeschätzt. So hat im Jahre 2004 die französische Regierung einem Überlebenden des deutschen Widerstands, Philipp von Boeselager, den Offiziersgrad der Ehrenlegion verliehen, und die Ministerin schloss: "Die Regierung erweist damit den Tausenden die Ehre, die in den Monaten nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurden und die mit ihrem Blut eine der heldenhaftesten und schrecklichsten Seiten der deutschen Geschichte geschrieben haben. ... Ihr Opfer hat Deutschland nicht verschont, aber Deutschlands Ehre gerettet." Bemerkenswerte Anerkennung!
Ich glaube, es gab diese Gemeinsamkeiten im europäischen Widerstand. Es gab in Europa Menschen, die unter brutalsten Umständen ihr Leben riskierten, um Anstand, Gerechtigkeit. und menschliche Würde zu ehren, denen der Traum eines friedlichen Europas der Vernunft vorschwebte: Könnte man nicht dieser Gemeinsamkeit gedenken und eine europäische Erinnerungsstätte errichten - in Ehren von vielen und in Anerkennung einer bleibenden Verpflichtung dieses Europa zu festigen in Geist und Tat. Könnte eine solche Gedenkstätte des Europäischen Widerstandes nicht errichtet werden: schlicht und einfach, mit Bedacht um der Gegensätze innerhalb und zwischen den nationalen Bewegungen des Widerstands, als Ausdruck eines immerwährenden Dankes, dass es in dunkelsten Zeiten Menschen gab, die ihre Menschlichkeit bewiesen. Eine solche gemeinsame Gedenkstätte, vielleicht in der Nähe des europäischen Gerichtshofes, würde Dank und Verpflichtung ausdrücken und sollte die späteren Freiheitskämpfer Osteuropas einbeziehen. Ein Denkmal der Versöhnung: die Toten zu
ehren, den Künftigen zur Mahnung.