Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin

Typ: Rede , Datum: 17.06.2012

  • Ort

    Berlin, Friedhof Seestraße

  • Rednerin oder Redner

    sonstige

Meine Damen und Herren,

wir haben uns versammelt, um an die Ereignisse vom 17. Juni 1953 zu erinnern.

Heute vor 59 Jahren demonstrierten mehr als eine Million Menschen in der ganzen DDR. Ausgehend von einem Streik der Bauarbeiter auf der Stalinallee hatte sich der Protest im ganzen Land verbreitet und zu einem regelrechten Volksaufstand gegen den SED-Staat entwickelt. Wut über die Verhältnisse in der DDR und tiefe Verzweiflung trieben die Menschen in 700 Städten und Gemeinden auf die Straße. Sie kämpften für bessere Lebensverhältnisse und skandierten: „Wir wollen frei sein“.

Volkspolizei und sowjetische Panzer schlugen die Proteste blutig nieder. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Eine Welle von Verhaftungen folgte.

Wir sind zusammengekommen, um an die Frauen und Männer zu erinnern, die am 17. Juni 1953 ihr Leben verloren.

Wir denken an die vielen, die nach der Niederschlagung des Aufstandes massiven Repressionen ausgesetzt waren, obwohl sie nichts anderes getan haben, als von einem Menschenrecht Gebrauch zu machen: vom Recht auf freie Meinungsäußerung und vom Recht, sich friedlich zu versammeln.

Wir denken an die Menschen, die wegen ihrer Teilnahme an den Aktionen des 17. Juni schreckliches Leid erlitten haben. Im Zuchthaus oder Gefängnis oder gar in dem berüchtigten sowjetischen Strafgefangenen- und Arbeitslager Workuta.

Der Aufstand am 17. Juni 1953 hatte keinen unmittelbaren Erfolg. Dem Blutbad folgte eine Phase verschärfter Unterdrückung in der DDR.

Aber wir wissen heute: Der Protest war nicht umsonst. In ihm artikulierte sich die verbreitete Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung. Diese Sehnsucht blieb. Nicht nur in der DDR. Auch in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, in denen kommunistische Diktaturen regierten.

So reiht sich der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ein in die großen europäischen Freiheitsbewegungen in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts: von Ungarn 1956 über Prag 1968 und Polen 1980 bis hin zu den Montagsdemonstrationen und der Bewegung, die im Herbst 1989 zum Fall des Eisernen Vorhangs und zur Friedlichen Revolution führte.

Es ist wichtig, dass wir die Erinnerung an den 17. Juni 1953 wachhalten. Dass wir daran denken, was Menschen riskiert haben, um sich für politische Veränderungen und für die Freiheit einzusetzen. Und dass wir die Erinnerung an dieses wichtige Kapitel der jüngeren Geschichte weitergeben an die nächste Generation. Indem wir unsere Gedenkstätten wie die in Hohenschönhausen pflegen und für deren Besuch werben. Indem der Schulunterricht das Thema aufgreift. Und indem wir Begegnungen mit Zeitzeugen ermöglichen, die uns von ihrem Schicksal, aber auch von ihren Sehnsüchten und ihrem mutigen Einsatz für die Freiheit erzählen. Einige sind auch heute wieder unter uns. Ich begrüße sie herzlich.

Der 17. Juni 1953 ist ein bedeutender Tag in der deutschen und europäischen Freiheitsgeschichte. Trotz der Niederschlagung des Aufstandes ist der 17. Juni 1953 ein stolzer Tag, der für die Sehnsucht der Menschen in der DDR nach Freiheit und Demokratie steht – und für ihren Mut.

Mut, sehr viel Mut haben auch die Aktiven in den anderen europäischen Freiheitsbewegungen bewiesen – in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen.

Die Erinnerung an den 17. Juni lässt uns aber auch an die vielen anderen Menschen weltweit denken, die heute gegen Unterdrückung und für die Freiheit kämpfen. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen besonders bei den Menschen in Syrien.

Wir haben uns auf diesem Friedhof versammelt, weil hier einige Opfer der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Wir verneigen uns vor den mutigen Frauen und Männern des 17. Juni 1953.