Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin

Typ: Rede , Datum: 17.06.2011

  • Ort

    Berlin, Friedhof Seestraße

  • Rednerin oder Redner

    sonstige

Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Friedrich,

Herr Präsident des Abgeordnetenhauses, 

besonders herzlich begrüße ich Mitglieder der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus e. V. und ihren Präsidenten Herrn Knezović, die in diesen Tagen in Berlin ihren 19. Kongress abhalten, 

meine Damen und Herren, 

wir sind zusammengekommen, um der Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 zu gedenken. In dieser Grabstätte ruhen elf Menschen, die Opfer der brutalen Niederschlagung des Volksaufstandes wurden. 

Unter ihnen ist Werner Sendsitzky, ein Berufsschüler aus Charlottenburg. Er war am 17. Juni gegen 16 Uhr aus dem Haus gegangen, so vermerkte es das Polizei-Protokoll und dann auf dem Dach des Behelfsheims in der Liesenstraße offenbar versehentlich durch den Warnschuss eines Volkspolizisten getötet worden. 

Werner Sendsitzky starb an seinem 16. Geburtstag. Er war Zuschauer des Volksaufstandes, kein Held, wie die vielen Menschen, die in Ost-Berlin und anderen Städten der DDR für ihre Freiheitsrechte auf die Straße gingen. 

Wäre Werner Sendsitzky am Leben geblieben, er würde heute seinen 74. Geburtstag feiern.

Und natürlich hätte er seine Geschichte vom 17. Juni erzählt: Wie er schon in den Vortagen aus dem Rias von den Streiks und den Unruhen im Ostsektor gehört hatte. 

Und wie er an seinem Geburtstag das aufregende Geschehen selbst in Augenschein nehmen wollte. 

Am Vormittag hatten 10.000 Stahlarbeiter aus Hennigsdorf an der Chausseestraße die Sektorengrenze nach Ostberlin überschritten und waren von den Menschen dort begeistert empfangen wurden. 

Dann hatten Demonstranten das Verlagsgebäude des FDGB in der Chausseestraße gestürmt. Das alles wollte er mit eigenen Augen sehen. Zum Potsdamer Platz oder zur Stalinallee – das war ihm zu weit und zu gefährlich, und er wollte an diesem Tag ja auch noch Geburtstag feiern. 

Und Werner Sendsitzky hätte erzählt, wie er mit den demonstrierenden Menschen mit gefiebert hatte, als sie um ihr Leben liefen. Und dass von der Sektorengrenze her Menschen aus West-Berlin die Demonstranten anfeuerten und unterstützten bis sie von Volkspolizisten mit Warnschüssen zurückgedrängt wurden. 

Seinen 16. Geburtstag am 17. Juni 1953 hätte Werner Sendsitzky nie vergessen. Vielleicht hätten ihn diese Ereignisse zu einem politischen Menschen gemacht. Und er wäre heute, an seinem 74. Geburtstag, hier unter uns.

Werner Sendsitzky ist nicht das jüngste Opfer, das hier begraben liegt. Wolfgang Röhling war 15 Jahre alt, als ihn am 22. Juni ein Volkspolizist beim Baden am Spandauer Schifffahrtskanal erschoss. Rudi Schwander war erst 14 als ihn am Abend des 17. Juni in der Rheinsberger Straße eine Kugel traf. 

Drei Opfer, die in besonderer Weise für die Grausamkeit und Willkür stehen, mit der die SED und die sowjetischen Panzer den Volksaufstand niederschlugen. 

Es begann an der Stalinallee und den angrenzenden Baustellen. Aus der Wut über die Normenerhöhung erwuchs ein Flächenbrand. Etwa eine Million Menschen waren in mehr als 700 Städten und Gemeinden der DDR auf die Straße gegangen. 

Und es ging nicht mehr nur um Arbeitsnormen und die Versorgungslage. 

„Nieder mit der SED“, „Freie Wahlen“, „Freilassung aller politischen Häftlinge“, „Rücktritt der Regierung“, „Abzug der Besatzungstruppen“, „Wiedervereinigung“: So lauteten die Parolen in der gesamten DDR. Da wurde der SED von der eigenen Bevölkerung eine Rechnung präsentiert, die offen blieb – bis zum Herbst 1989. 

Die Bilanz des Volksaufstandes: 13.000 bis 15.000 Menschen wurden verhaftet, mindestens 2.300 verurteilt. Sowjetische Standgerichte erschossen 18 Menschen, zwei Personen wurden von ostdeutschen Gerichten verurteilt und hingerichtet. Zwischen 60 und 80 Demonstranten kamen auf den Straßen und Plätzen ums Leben. 

Die acht Opfer des 17. Juni, die in West-Berliner Krankenhäusern starben, wurden hier auf dem Urnenfriedhof Seestraße beigesetzt. 

Wir gedenken in diesem Jahr auch des 50. Jahrestages des Mauerbaus. Und vielleicht hätte auch Werner Sendsitzky aus eigener Erfahrung festgestellt: Von der Niederschlagung des Volksaufstandes führt ein direkter Weg zum Bau der Mauer. 

Die große Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung wuchs nach dem 17. Juni weiter. Immer mehr Menschen verließen die DDR. Als weitere Bedrohung empfand die SED-Führung auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Berlinerinnen und Berliner, das sich auch am 17. Juni eindrucksvoll gezeigt hatte. 

Mit dem Bau der Mauer verblasste in der westdeutschen Bevölkerung die Erinnerung an den 17. Juni. Wussten 1965 noch 85 Prozent der Bundesbürger, was am 17. Juni geschehen war, waren es 1978 nur noch 46 Prozent. Den Mantel des Vergessens hätte die SED auch gerne über ihrer eigene Bevölkerung ausgebreitet. Doch vergebens: 

Die Menschen in der DDR mussten in den Verhältnissen leben, vor allem nach 1961, als durch die Mauer die Fluchtmöglichkeiten massiv eingeschränkt waren. 

Man richtete sich ein, so gut es ging.

Manche arrangierten sich, andere ballten die Faust in der Tasche.

Aber als die dahinsiechende SED-Diktatur nicht mehr auf die sowjetischen Panzer bauen konnte, da war der Freiheitswille wieder da – ungebrochen und kämpferisch. 

Jeder Gedenktag (man mag das bedauern) unterliegt Konjunkturen hinsichtlich seiner öffentlichen Wahrnehmung. Aber die Bilder und Berichte vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 haben in diesen Wochen eine selten da gewesene Aktualität. 

Wir erleben es in Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien, Bahrain und dem Jemen: Millionen Menschen erheben sich gegen Diktaturen.

Und manch Kommentator reibt sich verwundert die Augen, dass ausgerechnet islamische Gesellschaften solch eine starke Sehnsucht nach Freiheit entwickeln. 

Aber die Menschen in Ost-Berlin und der DDR waren auch keine geborenen Freiheitskämpfer. 1953 hatten sie 20 Jahre ununterbrochen in Diktaturen gelebt, ohne sich an den Zustand der Unterdrückung und Bevormundung zu gewöhnen. 

Der Freiheitswille ist eben doch ein elementares menschliches Bedürfnis, das uns über alle kulturellen Gegensätze hinweg verbindet. 

Wenn wir heute der Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gedenken, dann auch in dem Bewusstsein, wie ungeheuer virulent dieser Freiheitswille ist. Wir dürfen das nicht vergessen. 

Das Gedenken des Volksaufstandes ermöglicht uns, Menschen in anderen Gesellschaften zu verstehen, die für ihre Freiheit kämpfen. Und ist uns zugleich Verpflichtung, uns mit ihnen solidarisch zu erklären. 

Wir verneigen uns vor den mutigen Männern und Frauen des 17. Juni.