Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin
Rede 17.06.2010
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Ort
Berlin, Friedhof Seestraße
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Rednerin oder Redner
sonstige
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Ramsauer,
sehr geehrter Herr Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin,
sehr geehrter Herr Dr. Schöbe,
meine Damen und Herren,
auf dem Alexanderplatz ist die Ausstellung „Wir sind das Volk!“ über die Friedliche Revolution von 1989 zu sehen. Sie beginnt mit drei Szenen des Widerstandes gegen Diktatur und Unterdrückung:
- Der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR,
- dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei am 21. August 1968
- und den Massenprotesten gegen das Kriegsrecht in Polen am 31. August 1982, auf die die polnischen Sicherheitskräften mit äußerster Brutalität regierten.
Die Bilder gleichen sich: Panzer auf den Straßen, Tränengas, wütende Menschen, die sich verzweifelt wehren, ängstliche Menschen, die um ihr Leben laufen. Drei Ereignisse, die damals mit vielen Hoffnungen, aber auch mit großer Tragik verbunden waren. Aber die Protestbewegungen in der DDR, in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zeigen auch, dass es in den Jahrzehnten der Diktatur stets gärte. Dass die Erhebungen von 1989 nicht aus dem Nichts kamen, sondern eine lange Vorgeschichte haben.
Es begann am 17. Juni 1953: Diese Geschichte wird gerne von ihrem Ende her erzählt. Das ist in diesen Jahren besonders naheliegend, da wir der Friedlichen Revolution, des Mauerfalls und der Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins vor 20 Jahren gedenken.
Die Botschaft ist klar: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ist der Anfang vom Ende der SED-Diktatur. Aber wer die Geschichte der DDR ausschließlich von ihrem glücklichen Ausgang her betrachtet, der übersieht oft auch etwas: Nämlich das wahre Ausmaß der Gefahren und Risiken, denen sich die Männer und Frauen am 17. Juni 1953 in Berlin und zahlreichen anderen Orten der DDR aussetzten.
Damals konnte niemand ahnen, dass der 17. Juni die erste Etappe auf dem Weg zum Untergang der SED-Diktatur war. Die protestierenden Menschen wussten nicht, dass die Geschichte auf ihrer Seite sein würde. Aber sie spürten, dass sie für die richtige Sache kämpften – und zwar auf jede Gefahr hin.
Die Arbeiter der Stalinallee, die am 15. Juni streikten, hatten zunächst praktische Sorgen. Der Sozialismus hatte versprochen, dass alles besser werde. Aber acht Jahre nach Kriegsende war die Versorgungslage in der DDR alles andere als gut. Bald machte ein Spott-Lied die Runde:
"Deutschland, Deutschland über alles,/
ohne Butter, ohne Speck,/
und das bisschen Marmelade/
frisst uns die Verwaltung weg./
Die Preise hoch, die Grenzen fest geschlossen,/
die Not marschiert mit ruhig festem Schritt;/
es hungern alle kleinen Volksgenossen,/
die großen hungern nur im Geiste mit./
Die Erfahrungen der Nazi-Zeit wirkten nach. Es war eine tiefe Verzweiflung, die die Menschen antrieb. Und eine große Wut. Sie hatten für den Aufbau des Landes große Opfer erbracht. Sie leisteten harte Arbeit für einen kargen Lohn. Ihre Freiheitsrechte wurden ihnen vorenthalten. Wie sehr – das wurde ihnen im Juni 1953 bewusst. Es ging nicht länger nur um Butter, Speck und Marmelade. Für die Streikenden ging es um die Frage, ob die DDR wirklich ein Arbeiter-und-Bauern-Staat war, ob die versprochenen Ideale einer humanen und gerechten Gesellschaft von den Herrschenden eingelöst wurden.
Diese Fragen bewegten nicht nur die Arbeiter in der Stalinallee, sondern viele Menschen in der DDR. Als die SED Härte zeigte, entfaltete die allgemeine Unsicherheit und Unzufriedenheit eine revolutionäre Wucht. „Wir wollen frei sein!“, skandierte die Menge in Berlin und anderswo.
Aus der Streikbewegung wurde ein Volksaufstand für Freiheit und Demokratie. Ihm schlossen sich etwa eine Million Menschen in mehr als 700 Städten und Gemeinden an. Die SED war ohnmächtig. Erst sowjetische Panzer konnten den Volksaufstand blutig niederschlagen.
Die Bilanz: 13.000 bis 15.000 Menschen wurden verhaftet, mindestens 2.300 verurteilt. Sowjetische Standgerichte erschossen 18 Menschen, zwei Personen wurden von ostdeutschen Gerichten verurteilt und hingerichtet. Zwischen 60 und 80 Demonstranten kamen auf den Straßen und Plätzen ums Leben. Die acht Opfer des 17. Juni, die in West-Berliner Krankenhäusern starben, wurden hier auf dem Urnenfriedhof Seestraße beigesetzt.
Die sowjetischen Panzer hatten die SED-Herrschaft gerettet. Doch den Freiheitswillen in der Bevölkerung konnten sie nicht besiegen. Offenes Aufbegehren fand fortan nur noch selten statt. Aber die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung blieb, auch bei vielen Menschen, die sich äußerlich anpassten.
Die Erinnerung an den Volksaufstand 17. Juni blieb wach. Und damit die Hoffnung, dass sich eines Tages die Verhältnisse in der DDR verändern ließen.
Für die SED-Führung war der Volksaufstand vom 17. Juni ein Trauma. Wenige Wochen bevor die Mauer fiel, fragte Stasi-Chef Mielke seine hochrangigen Offiziere während einer Dienstbesprechung: „Ist es so, dass Morgen der 17. Juni ausbricht?“ Da antwortete einer: „Der ist Morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“
Ein Irrtum. 1989 konnten Mielke und seine Helfer das Volk nicht mehr aufhalten. So erfüllte sich das Vermächtnis des 17. Juni 1953 am 9. November 1989 – in Ost-Berlin, in der DDR, aber auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas.
Wir verneigen uns vor den mutigen Frauen und Männern des 17. Juni 1953